»Die Synagoge ist erneut als Symbol jüdischen Lebens zum Angriffsziel geworden.«

Grußwort von Prof. Jacoby



Liebe Gemeindemitglieder,

in diesen schweren Zeiten ist unser Gemeindeblatt ein wichtiges Kommunikationsmittel, um trotz den Einschränkungen unseres Gemeindelebens durch die Corona-Pandemie in Verbindung zu bleiben. Wir mussten fast alle Aktivitäten außer den regelmäßigen G-ttesdiensten Einschränken oder ganz aufgeben.

Wir haben uns deshalb gleichzeitig dazu entschlossen, nicht darauf zu verzichten, an den 09. November zu erinnern. In diesem Jahr hat die Offenbacher Marienschule sich intensiv mit diesem Tag beschäftigt, und etliche Schülerinnen sind mit ihren Beiträgen Teil dieses Erinnerns. Das folgt an dieser Schule aus der pädagogischen Erkenntnis der Lehrkräfte, dass insbesondere für junge Menschen dieser Tag ein wichtiges Datum für alle Deutschen ist.

Zum einen ist es der Tag des Mauerfalls in Berlin, der die seit dem Ende des 2. Weltkriegs gespaltene Nation wieder geeint hat, zum anderen aber ist es vor allem ein Tag deutscher Schande. Vor 82 Jahren, am 9. November 1938, brannten die meisten Synagogen in diesem Land. Ein Tag, an dem der perfide Plan, das deutsche Judentum auszulöschen, erste Gestalt annahm. Drei Jahre vorher, 1935, hatten die Nürnberger Rassengesetze Juden in Deutschland schon zu Freiwild gemacht, sie ausgegrenzt und sie aus Ämtern und Berufen gejagt. Kurz nach dem Novemberpogrom folgten ein Vernichtungskrieg und der Holocaust.

Zum Verständnis der Nachkriegs-geschichte Deutschlands gehört deshalb, dass die neu entstandene jüdische Gemeinschaft hierzulande eines besonderen Schutzes und Rücksichtnahme, aber auch gesellschaftlicher Stärkung bedarf. Den Schülerinnen der Marienschule und ihren Lehrern ist das bewusst.

In diesem Jahr steht das Erinnern an die Ereignisse von vor über 80 Jahren aber erneut unter dem Eindruck des vermehrt und ungeniert aufkommenden rechtsradikalen Antisemitismus. Zwei einschneidende Ereignisse zeigen das sehr deutlich. Vor einem Jahr an Jom Kippur ereignete sich in Halle ein schrecklicher Überfall gegen die dortige Gemeinde. Anstelle der 50 Betenden in der Synagoge waren es zwei unschuldige Tote, die gar nichts mit der Gemeinde verband, die Opfer eines rechtsradikalen lernfaulen Losers wurden. Eine Tat, die das Vertrauen in die Sicherheit des eigenen Lebens bei einem Gang in die Synagoge sehr ins Wanken gebracht hat. Die Synagoge ist erneut als Symbol jüdischen Lebens zum Angriffsziel geworden.

Es wurde erst kürzlich in Hamburg erneut erschüttert, als ein ebenso Rechtsradikaler einen Synagogenbesucher schwer verletzt hat. Die Synagoge ist so erneut als Symbol jüdischen Lebens zum Angriffsziel geworden. Ein Bauwerk, das man vor über 80 Jahren in fast allen Städten des Landes verbrannt hatte, und bei dem die Einwohner dieser Städte zumeist tatenlos zugeschaut haben.

Halle liegt in Sachsen-Anhalt. Es ist das letzte Land in der Bundesrepublik, das sich anschickt, in Magdeburg und Dessau die am 9. November vor 82 Jahren verbrannten Synagogen durch neue zu ersetzen. Heute ist es eine Frage der Normalität in den Bundesländern, dass Synagogen neu entstehen oder alte wieder in Nutzung kommen. Vor 30 Jahren war das noch anders. Ich erinnere mich gut an den Besuch von Golo Mann in der gerade eröffneten neuen Synagoge von Darmstadt. Nach einem 1986 von der Stadt Darmstadt mit der Jüdischen Gemeinde durchgeführten Architektenwettbewerb war das
G-tteshaus am 9. November 1988, also exakt 50 Jahre nach dem Novemberpogrom, eingeweiht worden. Als Historiker fragte Golo Mann mich damals, ob ich es richtig fände, überhaupt neue Synagogen für die damals nur 27.000 Mitglieder zählende jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu errichten. Bauen bedeute für ihn Geborgenheit. Der Holocaust habe dieses Gefühl aber nachhaltig zerstört, und man könne das auch durch die schönsten Bauwerke niemals überwinden. Inzwischen ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf über 120.000 Menschen gewachsen, und mit ihrer Zahl wuchs in den Gemeinden das Vertrauen in die Bundesrepublik als Rechtsstaat, der seine Minderheiten achtet und sich für sie einsetzt.

Das Attentat von Halle und den Vorfall in Hamburg mit dem Erinnern an den 9. November 1938 in Verbindung zu bringen, ist in der historischen Dimension sicher falsch.

Rechtsradikale Attentate aber als mögliche Zäsur im Vertrauen der jüdischen Menschen zu ihrem Alltag im Hier und Jetzt zu begreifen, ist richtig. Unsere Synagogen bleiben nach wie vor die Identifikationsräume jüdischen Lebens in Deutschland. Sie anzugreifen, ist ein Attentat auf unsere Existenz hierzulande.

Genau wie vor 82 Jahren.


Prof. Alfred JACOBY,
Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde Offenbach


Einen Bericht über die Gedenkveranstaltung am 9. November und eine Videoaufzeichnung dazu finden Sie hier als Link zur Internetseite der Stadt Offenbach.